Parlamentarische Initiative zur Kinderbetreuung

Volltext der Parlamentarischen Initiative

Parlamentarische Initiative von Katharina Prelicz-Huber, GRÜNE
(Mitunterzeichner: Pierre-Yves Maillard, SP)
4. Mai 2020

Titel
Familien- und schulergänzende Betreuung als Teil des Service Public

Text
Gestützt auf Artikel 160 Absatz 1 der Bundesverfassung und Artikel 107 des Parlamentsgesetzes reiche ich folgende parlamentarische Initiative ein:
Es ist eine neue Verfassungsbestimmung, Artikel 62a und Artikel 66, Absatz 3 zu schaffen.
Neuer Art. 62a
Familien- und schulergänzende Betreuung
1. Für die familien- und schulergänzende Betreuung sind die Kantone zuständig.
2. Sie sorgen für ein bedarfsgerechtes, altersgerechtes, qualitativ hochstehendes und dem Kindswohl verpflichtetes Angebot, das allen Kindern offensteht. Die Betreuung steht ab Ende des gesetzlichen Mutterschaftsurlaub bis Ende der Volksschulzeit zur Verfügung. Sie untersteht staatlicher Leitung oder Aufsicht. Sie ist unentgeltlich.

Neuer Art. 66, Abs. 3
Der Bund gewährt den Kantonen Beiträge an ihre Aufwendungen für die familien- und schulergänzende Betreuung. Diese sind gebunden an öffentliche oder gemeinnützige Einrichtungen, die qualifiziertes Personal, fortschrittliche Arbeitsbedingungen und einen dem Kindswohl entsprechenden Betreuungsschlüssel vorweisen.

Begründung:
Gerade die Corona-Virus-Krise hat gezeigt, wie systemrelevant die familienergänzende Kinderbetreuung ist und wie schnell die Einrichtungen in ihrer Existenz gefährdet sind. Auch im Home-Office können Kinder nicht nebenbei gehütet werden. Es braucht ein verlässliches Betreuungsangebot.
Familien- und schulergänzende Betreuung solenl künftig unentgeltlich als Teil des Service Public ab Ende des gesetzlichen Mutterschaftsurlaub bis Ende Volksschule allen Kindern zur Verfügung stehen.
Mit der höheren Erwerbstätigkeit der Eltern, im Speziellen der Frauen und der einhergehenden höheren Steuern refinanziert sich diese Investition.
Nur mit genügend und qualitativ guter Kinderbetreuung kann die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Gleichstellung von Frau und Mann und die Chancengleichheit markant verbessert werden.
Der Nutzen der frühkindlichen Bildung und Betreuung (FBBE) ist hoch. Verschiedene Studien machen deutlich, dass Betreuung, Frühförderung und Bildung in den ersten Lebensjahren eine lohnende Investition in die Zukunft sind. Einerseits dienen sie dem Kindswohl und andererseits ist zu diesem Zeitpunkt das Potential der sozialen, kognitiven und emotionalen Ressourcen der Kinder bei kindgerechter Förderung besonders gross.
Profitieren würden insbesondere Kinder aus sozio-ökonomisch benachteiligten
Familien. Unlängst hat die Studie «Soziale Selektivität» des Schweizerischen Wissenschaftsrates (SWR) darauf hingewiesen, dass das Schweizer Bildungssystem diese Kinder diskriminiert und «Humankapital» brachliegen lässt; gerade die FBBE sieht der SWR als zentrales Handlungsfeld an.
Familien- und schulergänzende Betreuung eröffnen die Möglichkeit einer höheren Erwerbstätigkeit der Eltern, speziell der Frauen, und sind damit auch eine Antwort auf den Fachkräftemangel. Sie tragen zu einer besseren Altersvorsorge, weniger Sozialhilfeabhängigkeit und zur Armutsbekämpfung bei.
Die Anschubfinanzierung des Bundes hat zwar über 60'000 neue Betreuungsplätze geschaffen, doch ist der Bedarf noch längst nicht gedeckt. Viele Einrichtungen sind finanziell am Limit; die Löhne sind tief und häufig nicht existenzsichernd; es gibt zu viele Angestellte ohne Ausbildung; das Personal ist überlastet und die Betreuungsschlüssel sind zu knapp. Damit kommt die Förderung der Kinder zu kurz. Die Tarife sind für die Familien zu hoch, für die Anbieter jedoch nicht kostendeckend. Ohne substanzielle öffentliche Finanzierung sind die Kitas und Horte in guter Qualität und mit fairen Arbeitsbedingungen nicht führbar.
Für die Finanzierung sollen analog dem Schulwesen Bund, Kantone und Gemeinden zuständig sein und die Kosten teilen. Dabei soll der Bund jährlich rund 1% des BIP investieren, derzeit also etwa 6,9 Milliarden Franken. Dieser Betrag orientiert sich an der OECD, die ihren Mitgliedstaaten für den vorschulischen Bereich eine Kinderbetreuungs-Ausgabenquote von mindestens 1% des BIP empfiehlt. Für die schulergänzende Betreuung müsste etwa ebenso viel vorgesehen werden. In der Schweiz belaufen sich die staatlichen Ausgaben für den vorschulischen Bereich zurzeit auf 0,2%; im Vergleich dazu geben die Länder Skandinaviens deutlich über einem Prozent allein für den vorschulischen Bereich aus. Für die reiche Schweiz, deren Ressourcen gut ausgebildete Menschen sind, sollte diese Investition ein Muss sein, zum Wohle der Kinder, der Wirtschaft und des sozialen Friedens.